Ein Beitrag des Kustos des Heiligen Landes zum Meeting in Rimini

Giacomo Pizzi12 September 2011

Rimini, 24. August 2011

Zunächst möchte ich sagen, dass das, worum ich gebeten worden bin, gar nicht so einfach ist. Ich soll zu Ihnen über den wunderschönen und faszinierenden Ort Kafarnaum und meine damit verbundene Glaubenserfahrung in Christus sprechen und zudem darlegen, wie diese Erfahrung noch heute mein Leben als Franziskaner im Heiligen Land nährt. Ich bin etwas unsicher angesichts all der Erfahrungsberichte, die umlaufen und weitererzählt werden. Um zu dem Kern der Beziehung zu gelangen, die mich auf meinem Weg durch das Heilige Land nährt und trägt, muss ich eine Synthese vornehmen. Diese Begegnung im Rahmen des Meetings zwingt mich zu einer nach Altersphasen und Lebensumständen differenzierten Neudefinition meiner persönlichen Beziehung zu jener Gewissheit, die den gemeinsamen Nenner unseres Meetings bildet: Christus; und meiner Erfahrung in der Schule des Konkreten: Kafarnaum und dem Heiligen Land. Das Leben und den Glauben „mit den Augen der Apostel“ zu leben, heißt nach meiner Überzeugung: zusammen mit der Treue zu einem unabänderlich feststehenden Repositorium bietet die „apostolische Lebensweise“ aus dem franziskanischen Gedächtnis die tiefe Überzeugung, dass wir hier und jetzt, in dem kleinen Fragment unserer Lebensgeschichte und unseres Lebensraums, eine immense Gewissheit antreffen und erleben können, weil dies „zu dieser Zeit“ und „an diesem Ort“ schon geschehen ist. Was ist also meine Christuserfahrung? Was sagt uns das Trümmerfeld Kafarnaum über diese Erfahrung? Wie nährt dieses Land auch heute noch meine Christuserfahrung im Alltag? Das sind einfache und zugleich sehr schwierige Fragen.

Bevor ich auf Kafarnaum eingehe, möchte ich mit einem anderen, entfernteren Ort beginnen, genau genommen dem ersten Ort, den Gott auf Erden besiedelte. Es handelte sich nicht um Karfarnaum, nicht um Nazareth oder Jerusalem, sondern den Garten Eden.

Und dann möchte ich näher kommen und mit Ihnen gemeinsam einige Kapitel der Bibel hören, die sehr weit auseinander zu liegen scheinen: die ersten Kapitel des Buches Genesis und die Anfangskapitel des Evangeliums nach Markus. Die Kapitel sind scheinbar weit entfernt voneinander, haben aber etwas gemeinsam. Sie stellen nämlich beide einen Anfang dar.

Das Buch Genesis spricht von einem Anfang („Bereschit“), um nicht allein das, was vor allem anderen kam, zu zeigen, sondern auch den Grundgedanken, der das Herz Gottes bewegte, als Er die Welt und den Menschen schuf. Er wollte freiwillig, versteht sich, und nicht etwa aus Not heraus („zu seinem Ruhm“, wie es im Katechismus heißt) ein Gott mit der Welt und für die Welt, mit dem Menschen und für den Menschen sein: die Welt und der Mensch – durchdacht, gewollt, geschaffen und geliebt Es ist nicht übertrieben zu behaupten: Wenn der Mensch capax Dei („gottfähig“) ist, dann ist dies möglich, weil Gott capax hominis („des Menschen fähig“) und damit capax mundi („weltfähig“) ist. Die Grundwahrheit des Menschen besteht darin, für diese Begegnung geschaffen zu sein, für dieses Leben und die richtige Beziehung, in der das Leben entsteht und wächst.

Die Vorstellung, das Leben sei nicht in der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen, sondern außerhalb derselben oder im Gegensatz dazu, in der Flucht in eine imaginäre Welt der Macht und der Durchsetzungsfähigkeit zu finden, ist Sünde. Mit Adam und Eva hat der Mensch diese Vorstellung in sich aufgenommen.

Die schlichte Wahrheit – nämlich Gott, Mensch und die Beziehung zwischen beiden – ist nun durch den Zweifel gekennzeichnet. Es bleibt nur ein Leben, dass jeden Tag ganz neu erfunden werden muss, weil der Mensch nicht länger Gott kennt und auch nicht mehr weiß, dass alles bereits gegeben ist.

Erlösung besteht darin, dass es zu einer neuen Begegnung kommt, die dieser Welt und dem verwundeten Menschen, den Gott nicht verlassen hat, neues Licht und Leben schenkt.

Das Evangelium nach Markus berichtet uns im ersten Kapitel, dass Jesus nach der Gefangennahme des Johannes zu predigen begann und nach Kafarnaum kam. Der Evangelist Matthäus ist noch präziser und sagt uns, dass Jesus kam, um dort zu wohnen. Jesus kam eben, um in diesem verletzten, zersplitterten, für Gott und den Menschen unwirtlich gewordenen Land zu leben. Und er tat dies auf eine schlichte und einfache Weise, indem er in den Alltag und die Wohnungen der Menschen eintrat.

Ich möchte noch etwas bei diesem banalen und zugleich bedeutsamen Aspekt verweilen. In Kafarnaum sind heute noch die Straßen zu sehen, auf denen Jesus ging, und die Türschwelle vom Wohnhaus des Petrus. Wir können nachvollziehen, wie das Leben der Einwohner zu dieser Zeit war. Wir können die Küchen mit ihren Backöfen, Fußböden, Treppen sehen und erkunden, wie die Dächer gedeckt waren. Unter diesen Häusern befindet sich auch das von Jesus. Wir können es sehen an der Küste des Sees Genezareth und ein paar Privilegierte können es sogar berühren. Die Einwohner waren ohne emotionale oder theoretische Erfahrung. Jesus war da, in ihrer Mitte, in ihren Wohnungen. Die Ereignisse, die ihr Leben durcheinander brachten, geschahen dort, inmitten ihrer realen und alltäglichen Lebenszusammenhänge, und veränderten sie.

Aber lassen Sie uns zum Text des Markus zurückkehren.

Der erste Tag Jesu in Kafarnaum war nicht irgendein Tag. Es war ein Samstag, ein heiliger Tag, an dem die Liebe des Menschen zu Gott gefeiert und festlich des Bundes, der tiefen Beziehung zwischen uns und Ihm gedacht wurde.

Und an diesem ersten Tag gab es vier bedeutende Augenblicke. Hören wir, was der Evangelist Markus davon berichtet.

Der erste Augenblick (Mk 1,21-28) ist da, als Jesus die Synagoge betritt und zu sprechen beginnt. Seine Rede ist eine Lektion, eine neue, an den Menschen gerichtete Darlegung der Wahrheit Gottes. Und dann ertönt neben der Stimme Jesu die Stimme des Dämons. Wie in Eden ertönt neben der autoritativen Stimme Gottes die Stimme des Teufels. Und der Teufel brüllt, seine Stimme scheint mächtiger zu sein als die von Jesus, mächtiger als das Wort. Er will, dass der Mensch wieder mehr auf seine als auf Gottes Stimme hört. Und er schreit wegen der Distanz zwischen uns und Ihm: „Was hast Du mit uns zu schaffen?“ Der Teufel schreit seine Wahrheit, seinen Sieg hinaus: Du bist ein ferner Gott. Also, wozu bist Du hier? Deine Anwesenheit vernichtet uns, Du bist gekommen, um uns zu ruinieren …

Aber an diesem Tag kann die Stimme Jesu in Kafarnaum die alte Stimme zum Schweigen bringen. Er nimmt dem Menschen den Zweifel, Gott ist nicht länger ein ferner Gott. „Ruhig! Fahre aus ihm!“ Wenn das Wort erklingt, muss der Teufel verstummen. Wenn Jesus eintritt, muss das Böse gehen.

Und dann, als der letzte Ruf des Bösem verhallt, erwacht im Menschen wieder die eigentliche Frage: Und wer ist er? Wer ist es, der da spricht und die Stimme des Bösen, die Stimme des Zweifels in uns zum Schweigen bringt? Wer bewahrt uns auf diesem Weg? Hat sich Gott uns wirklich wieder genähert?

Nach Verlassen der Synagoge (Mk 1,29-31) betritt Jesus eine Wohnung, die Wohnung des Petrus, und heilt dessen Schwiegermutter, die fieberkrank im Bett lag. Und eben genesen, beginnt sie, ihnen aufzuwarten.

Und Jesus geht, um sich bei einem Bruch aufzuhalten – nicht jenem, der den Menschen von Gott trennt, sondern jenen, der den Menschen von seinem Bruder trennt und ihn, unfähig zu dienen, in seiner Einsamkeit gefangen hält. Jesus kommt, um hier zu wohnen.

Er tut nichts anderes als einfach zu kommen. Wieder tritt er einfach ein.

Und dann gibt es eine weitere sehr interessante Passage (Mk 1,32-34), ein drittes Wunder. Der Evangelist Markus sagt uns, dass am Abend, nach Sonnenuntergang, alle Einwohner der Stadt vor der Tür zusammenkamen und alle, die krank oder von Dämonen besessen waren, zu Jesus brachten. Und das war das dritte Wunder, dass eine ganze Stadt zusammengeführt wurde …

Jesus betrat die Synagoge und heilte den Menschen in seiner Beziehung zu Gott.

Er kam in ein Haus und heilte den Menschen in seinen innigsten Beziehungen, den Beziehungen zu seinen Angehörigen.

Und als die ersten beiden Beziehungen geheilt worden waren, geschah das dritte Wunder von selbst. Es bestand darin, dass sich eine ganze Ortschaft in einer neuartigen Verbundenheit im Schmerz einfand und alle zusammen die Erlösung erbaten durch den einzigen, der diese zu schenken vermag.

Schließlich gibt es da noch einen vierten Absatz (Mk 1,35-39). Er handelt davon, wie Jesus fortging. Heimlich, in der Nacht, ging er fort, um zu beten. Und als sie dessen gewahr wurden, waren sie erstaunt, dass er nicht mehr da war, und sie suchten und fanden ihn. Er aber sagte ihnen, dass er nicht nur für Kafarnaum da sei, sondern dass es da noch etwas gebe, das auf ihn warte und nach ihm verlange. Kafarnaum ist nicht alles, es ist kein geschlossener Raum, sondern vielmehr eine Tür, die zu etwas anderem, zu allem übrigen führt. Die Erlösung von Kafarnaum besteht darin, dass der Mensch seine Verbundenheit mit allen anderen Menschen wiederfindet. Was in Kafarnaum geschah, wird nun überall, für alle Menschen, alle Familien und alle Orte geschehen. Dieses Überall heißt: alle anderen Orte in Galiläa.

Aber dieser andere Ort ist vor allem der Vater. Es geschieht im Gebet zu ihm, dass Jesus zurückkehrt, zusammen mit dem Mann, den er getroffen und bei dem er gewohnt hat. Er, der bei den Menschen gewohnt hat, vermag nun, den Menschen zu seinem wahren Wohnsitz, dem Leben in Gott, führen.

Kafarnaum hat eine Tür zum Land der Menschen und zum Himmel des Vaters von Neuem geöffnet.

In diesem Moment sagt uns Kafarnaum, dass das wirkliche Leben des Menschen das wahre Heilige Land der Begegnung mit Gott bleibt. Man begegnet Gott, indem man das Leben auf Seine Weise führt, das heißt in der Beziehung und der offenen Begegnung mit Ihm. Es gibt einmal mehr einen Ort der Begegnung zwischen Ihm und uns, und dieser Ort ist ganz einfach die Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist. Das Leben mit anderen und für andere ist der einzige Ort, um Ihm zu begegnen.

Und wenn ich „Leben“ sage, meine ich nicht etwas Abstraktes, Idyllisches oder Raffiniertes. Nein, ich meine das Leben selbst, und er, der in seinem Herzen überhaupt alles weiß, weiß, wie dieses Leben von Mehrdeutigkeit und Sünde geprägt ist. Nun, genau dieses Leben und diese Erde bilden den Ort der Begegnung mit Ihm. Es gibt keine Erfahrung mit Gott ohne das schmerzhafte und schöne Drama jedes einzelnen Lebens. Hier, in unseren Begegnungen, in unseren Wohnungen geschieht die Erlösung. Die Augen der Apostel haben es gesehen und betrachtet.

Durch das Leben im Heilgen Land bin ich allmählich davon überzeugt worden. Nicht, weil ich es durch die Lektüre von Büchern gelernt hätte, sondern weil ich die Gelegenheit hatte, es zu leben. In dieser Hinsicht ist das Heilige Land ein beeindruckender Ort. Sich um die Stätten zu kümmern, ist nicht einfach eine Sache der Archäologie. Das Leben im Heiligen Land seit den Tagen des Franziskus und die Sorge um die Erinnerung an die Stätten verpflichten uns vor allem dazu, das Zeugnis und das Gedächtnis, auf die sich diese Stätten beziehen, zu hegen. Der Ort der Begegnung, an dem jemand Vergebung erlangt, sollte zum Zeugnis der Begegnung und der Vergebung werden. Wenn Jesus in einem Land lebte, dass einen Einblick in die Wahrheit und Göttlichkeit der menschlichen Wirklichkeit bietet, dann ist es möglich, mit Ihm und wie Er auf Erden zu wohnen. Wie Rahner sagt: Wenn das Wort Mensch geworden ist, dann haben alle Menschen die Macht, zum Wort zu werden!

So zeigt uns Kafarnaum, dass auf dieser Erde und unter den Menschen die Begegnung mit Gott immer möglich ist.

Allerdings kommt es hier zu keiner Begegnung, wenn man von Ideen ausgeht. Genauer gesagt: Es kommt zu keiner Begegnung, wenn es den Ideen der Personen an Gewicht und Tiefe mangelt, wenn die wirkliche Grundlage eines in Offenheit gegenüber anderen und dem Anderen geführten Lebens fehlt. Denn Ideen ohne Leben musst du verteidigen, und der andere wird zum Feind und dein Mangel an Leben wird auf dich zurückfallen. Wenn deine Ideen aber Leben in sich tragen, brauchst du sie nicht zu verteidigen. Das Leben selbst wird dies tun, indem es von seiner eigenen Wahrheit kündet.

Nicht nur das. Die Begegnung mit dem anderen und der Verschiedenheit des anderen zwingt dich in bestimmter Weise, die Wirklichkeit deiner Erfahrung zu bestätigen. Sind es nur Ideen? Sind es nur hübsche Vorstellungen und schöne Worte? Oder ist da noch etwas anderes?

Deshalb sollte für uns das Leben im Heiligen Land nur eines sein: tun, was Jesus selbst tat, nämlich voller Vitalität in dieser zerbrochenen Welt leben, um zur Verlängerung Seines aufgeschlossenen und großzügigen Lebens zu werden.

Wie machen wir das? Auf eine ganz simple Weise, indem wir einfach versuchen, das Evangelium zu leben. Die Mission besteht wirklich nicht darin, etwas Besonderes zu tun, sondern an dem jeweiligen Ort und unter den jeweils geltenden Bedingungen das Evangelium zu leben.

Das Evangelium zu leben, ist eben diese Gelegenheit, keine Angst vor der Wirklichkeit und dem Leben zu haben, diese Gelegenheit, nicht zu fliehen, sondern bei uns zu bleiben und eine Gegenwart darin anzuerkennen. Dieser Gegenwart kann man nur begegnen, indem man sich dem Leben, wie es ist, ergibt. Das Evangelium ist das Staunen darüber, dass Du alles, was geschieht, leben kannst, nur weil es Jemanden gibt, der da ist und der mit dir ist.

Das Evangelium zu leben, bedeutet zunächst, diese Erfahrung in der ersten Person zu haben, im eigenen Werdegang konkret dabei zu bleiben und keinen anderen Weg der Erlösung zu ersinnen als jenen, der vom Kreuz Christi ausgeht. Nur da zu sein, in der eigenen Armseligkeit, und es Gott fortwährend zu erlauben, das Er dich erlöst. Ausschließlich daraus zu leben, gar nichts anderes zu haben und im Herzen des Mysteriums zu bleiben. Das Evangelium im Heiligen Land zu leben, wo die Dinge meist sehr kompliziert sind und die Vergangenheit (und die Gegenwart) der Gewalt das Leben ganzer sozialer und religiöser Gruppen soweit prägt, dass sie das einzige ist, von dem man heute liest, bedeutet für Franziskaner zu versuchen, Zeugnis von der Erlösung zu geben und damit den Teufelskreis von Gewalt und Angst zu durchbrechen.

Bisweilen haben wir eine vage und abstrakte Vorstellung von Erlösung. Wir sprechen davon, als sei sie etwas, das eines Tages geschehen werde, und während wir auf sie warten, sollten wir unser Bestes geben. Das ist nicht die christliche Erlösung. Die Seiten des Evangeliums über Kafarnaum berichten uns von einer sehr konkreten Erlösung und von einem Gott, der kommt und konkret in unserer Alltagswelt lebt, so dass dieses Alltagsleben zum Träger unserer Begegnung mit Ihm wird. Es erübrigt sich, etwas zu erfinden.

Wenn der Glaube so aber nicht ist, sondern auf ein paar Übungen oder ein paar Augenblicke des Tages beschränkt bleibt, wenn der Glaube nicht zu einem Ort im Leben mit dem Herrn, zu einem achtsamen und neugierigen Blick auf deinen Weg durch die Geschichte wird, wenn der Glaube nicht dein ganzes Dasein verwandelt, dann wird die Wirklichkeit immer eine Bedrohung sein, vor der man sich schützen muss. „Dein Glaube hat dich gerettet …“, sagt der Herr den Menschen, denen er begegnet.

Jesus lebte auf Erden mit konkreten Grundhaltungen: Friede, Freiwilligkeit, Aufgeschlossenheit, Versöhnlichkeit. Jesus würde unsere Sünde nicht ertragen haben, wenn seine Art des Verbleibens nicht Vergebung gewesen wäre. Als man in Kafarnaum ein Dach öffnete und so einen Lahmen zu Jesus brachte (Mk 2,1-12), hat er ihm sofort vergeben. Allein hieraus resultiert die Möglichkeit, dem anderen in seiner ganzen Verschiedenheit zu begegnen und zu entdecken, wie dir diese Begegnung etwas enthüllt und schenkt von dir selbst und deiner Beziehung zu Gott, das sonst nie entdeckt worden wäre.

Ich möchte nun auf eine persönliche Erfahrung eingehen, die meinen Aufenthalt im Heiligen Land sehr stark geprägt hat. Während meiner ersten Jahre in Jerusalem beschränkte sich mein Kontakt mit nicht-katholischen und nicht-christlichen Realitäten zunächst – um die unterschiedlichen Traditionen wissend, die in der einen oder anderen Weise das Leben in dieser alten Stadt beeinflussen – auf einfache Begegnungen auf der Straße mit Juden, Moslems und Christen anderer Konfessionen. Das waren mitnichten persönliche Begegnungen von besonderer Art, abgesehen von den üblichen, mehr oder weniger gleichartigen Erfahrungen, die alle Einwohner Jerusalems machen: die einen segnen dich, die anderen verfluchen dich, spucken auf dich oder sprechen nicht mehr mit dir … Alles in allem verlief mein Leben in ruhigen und geordneten Bahnen. Kurz gesagt, es gab keine besonderen Gelegenheiten zum „Dialog“, wie wir heute sagen. Ich lebte in jener Welt, die schon immer die meine gewesen war: christlich, katholisch, gläubig. Ich hatte meine Fragen und gab mir selbst die Antworten.

Die Dinge begannen sich zu ändern, als ich eingeladen wurde, an der Hebräischen Universität Jerusalem zu studieren. Dies war die erste echte Enthüllung, der erste echte Kontakt mit einer Wirklichkeit, die ganz anders und fremd für mich war. Ich betrieb Bibelstudien und fand mich daher am Bibelinstitut der Universität wieder, wo fast jeder gläubig war. Zu dieser Zeit war ich der einzige Christ im ganzen Institut. Nach den unvermeidlichen Anfangsschwierigkeiten entstanden echte Freundschaften. In den Beziehungen und den tiefgreifenden Diskussionen, die wir miteinander führten, wurde mir bewusst, dass wir keine gemeinsame Sprache hatten. Ich meine nicht die gesprochene Sprache, sondern die Denkweisen und Vorstellungen. Wenn ich über meinen Glauben redete (beinah das einzige Thema, über das man mit mir sprach), dann konnte ich kaum etwas davon vermitteln – nicht weil mir die Worte gefehlt hätten, sondern weil wir aus verschiedenen Welten kamen: Abendmahl, Dreifaltigkeit, Menschwerdung, Vergebung, Familie, Sozialleben usw. Die Vorstellung von Messianismus, die ich für eine gängige hielt, war tatsächlich ziemlich verschieden, die historische Interpretation indes komplett verschieden. Das Alte Testament, von dem wir immer gedacht hatten, dass es eine Gemeinsamkeit darstelle, wird in vollkommen unterschiedlicher Weise gelesen und gelebt, so dass es uns auch nicht sonderlich einen kann.

Allmählich kam ich dahinter, dass sie an meiner Erfahrung mit Christus mehr interessiert waren als an meinen Reflexionen über Christus.

Meine Reflexionen sagten nichts, sie besagten nichts, meine Erfahrung schon.

Meine Kommilitonen waren zumeist Siedler. Sie stammten aus Siedlungen in den von Israel besetzten Gebieten oder waren auf andere Weise mit dieser Welt verbunden. Ihre Glaubenserfahrung und ihre Bibellektüre hatte sie zu einigen, teils diskutablen Grundsatzentscheidungen gebracht. Wie sah es bei mir aus? In ihrer Haltung lag weder Provokation noch Feindseligkeit, sondern eine einfache und ernste Wissbegierde. Demgegenüber verhielt ich mich anfangs etwas unsicher. Denn was war meine Christuserfahrung gewesen und wie konnte ich darüber verständlich und glaubwürdig reden? Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich immer in einem christlichen und kirchlichen Umfeld gelebt und meine Seinsweise spiegelte diese Welt wieder. Es wurde mir aber auch klar, dass neben eines kommunikativen Kraftakts ein Versuch zur Klärung meines inneren Antriebs unternommen werden musste. Damals erkannte ich, was „Zeugnis“ konkret bedeutet, und sah, worin seine Mühe und sein Reiz liegen. Ich begriff, dass ein Zeugnis nur durch das ernsthafte Bemühen, es zu bekunden, wahr und bewährt ist. Es gibt keine Erfahrung ohne Zeugnis. Es gibt kein Zeugnis, das still für sich bleiben könnte.

Diese Phase bedeutete für mich eine Art der Neubegründung meiner Berufung. Die Kontakt – oder der Dialog, wenn Sie so wollen – mit der jüdischen Welt zwang mich dazu, meine Erfahrung neu einzuschätzen, mit derjenigen anderer Personen zu vergleichen und auf eine bestimmte, mir bis dahin unbekannte Weise zu teilen. Ich berichtete Menschen von Christus, die ihn nicht als den Herrn akzeptierten. Aber das hat uns nicht auseinander gebracht, sondern unsere Beziehungen mehr als alles andere gefestigt. Nie werde ich vergessen, wie wir gemeinsam immer nachmittags oder abends im Neuen Testament lasen. Einige Leute kamen von weither, um diese Zusammenkünfte nicht zu versäumen. Es ist nicht so, als ob ich diese Sitzungen angeordnet hätte. Vielmehr bot ich es ihnen an, und ich tat dies, zumindest anfangs, etwas zögerlich. Zu beinah jeder Seite kam die Frage: „Was heißt das? Was bedeutet das für Dich? Warum …?“ Stets konnten sie eine gedankliche Parallele in der rabbinischen Literatur finden. Wenn ich von ihren Eindrücken erfuhr, war ich berührt von ihrem Berührtsein. Wenn ich mir manchmal erlaubte, in freundlicher Weise einen etwas kritischen Kommentar in Kirchenfragen zu machen (vielleicht unbewusst, um ihre Gunst zu erwerben), brachte ich sie nur in Verlegenheit. Wie sie Israel liebten, so sollte ich die Kirche lieben und nicht deren innere Angelegenheiten mit ihnen diskutieren. Zeugnis zu geben, war nicht mehr allein ein Gebot für mich, sondern auch eine Notwendigkeit für sie. In gewisser Weise hatten sie es mir durch ihre Freundschaft „auferlegt“

Es geschah also auf dem Boden der Wirklichkeit, dass ich meine Freunde fand.

Ich entdeckte auch, dass Freundschaft eine Erfahrung ist, die dich in die Wirklichkeit zurückführt: zu dem, was du bist und was dich nötigt, du selbst zu sein.

Diese Erfahrung der Begegnung mit Menschen, die grundverschieden waren, und spätere Treffen von verschiedener Art, aber gleicher Intensität veränderten meine Beziehung zu Christus. Was ansteht, hat sich seither nicht geändert, eher mein Bezug dazu. Jene Beziehungen ließen mich auf ganz neue Weise eine persönliche Entscheidung in Bezug auf Christus treffen. In diesem Sinne kann ich sagen, dass ich dank dieser Freunde einen neuen und innigeren Jesus gefunden habe.

Wie begegne ich Jesus heute? Es ist nicht so, dass ich allezeit bereit wäre für diese Begegnung. Doch ich weiß, wo meine Stärken liegen: Wort und Gebet, der Ort und die Menschen – gemeinsam. Durch den Bezug zum Ort wird man unaufhörlich zurückgerufen zu dem Ereignis, von dem uns die Heilige Schrift berichtet. Dadurch wird es zu einer nahen und dichten Erinnerung. Die Beziehung zu einzelnen Menschen zwingt dich, die Wahrheit deiner Erfahrung zu bezeugen. Die Beziehungen im Heiligen Land sind schrecklich verletzt. Doch wenn man in dieser Wirklichkeit lebt, sieht man die täglich Herausforderung in Bezug auf Christus und all das, was konkret, schwierig und dennoch notwendig ist: Vergebung, Freiwilligkeit, Freiheit, Nächstenliebe, Mäßigung, Geduld, Aufgeschlossenheit … sind zur Notwendigkeit geworden. Wer sich diese Grundhaltung versagt, verleugnet sich selbst.

Schlussendlich tun wir als Franziskaner im Heiligen Land mehr oder weniger, was alle tun: wir beten, studieren, lehren, wir machen Ausgrabungen, kümmern uns um die Heiligen Stätten, heißen Menschen willkommen, errichten Bauwerke, arbeiten, erledigen unsere Angelegenheiten, kaufen und verkaufen … Doch der Sinn unseres Tuns liegt nicht in dem Tun selbst, sondern in der Möglichkeit, die sich ergibt aus der Liebe zum menschlichen Leben und dem genauen Wissen, dass jedes Leben die Möglichkeit der Gottesgegenwart birgt. Das ist das Sakrament einer Begegnung. Das Ziel besteht nicht im Endprodukt, sondern im Verlauf, in der Begegnung, im Evangelium der Begegnung, dem Dableiben und Dabeisein.

Aus der Begegnung mit diesem Land erwächst uns die Gnade und Pflicht einer realen Christuserfahrung, denn Worte reichen hier nicht aus. Oder vielleicht weil es hier zu viele Worte gibt und niemand mehr an sie glaubt.

Zum anderen bleibt die konkrete Erfahrung, auf einem keineswegs einfachen Weg zur Wahrheit und jenseits der Äußerlichkeiten zum Kern der Menschlichkeit zu gelangen.

Somit tun wir mehr oder weniger, was alle tun, und sind weder besser noch schlechter als sie. Wir besitzen nur eine Gewissheit, dass der Herr weiterhin in der Geschichte des Menschen wandelt. Es bleibt eine anstrengende Geschichte, aber eine, die gleichermaßen eingenommen und verziehen ist – und deshalb kostbar.

Wir harren hier aus mit der Sehnsucht dessen, der allen die einzigartige Neuheit unseres Glaubens, die Erlösung, bringen will: die persönliche Erlösung für jeden einzelnen Menschen. Deshalb harren wir hier aus und halten die Tür so geöffnet, wie das Haus des Petrus geöffnet war, um Herrn Jesus willkommen zu heißen. Wir öffnen für Gott die Tür zur Wirklichkeit. Damit geben wir Ihm etwas, das Ihm der Mensch oft nicht zu geben sich traut: Schmerz, Sünde und Heilsbedürftigkeit. Wir harren aus mit der Beharrlichkeit und der Hoffnung dessen, der den Vollzug des Heilsgeschehens schauen und dort, wo scheinbar noch Nacht ist, die Morgendämmerung von Kafarnaum sehen will.